86 Prozent der Arzneimittelhersteller wollen in den kommenden zwei Jahren verstärkt in digitale Angebote investieren und so ihr Multichannel-Marketing (MCM) ausbauen. Gleichzeitig gibt es in den Fachbereichen sehr heterogene Einstellungen zum MCM sowie zum optimalen Mix und dem möglichen Return. Dabei unterscheiden sich die Unternehmen stark in ihrer Investitionsbereitschaft.
Der verhängnisvollste Fallstrick ist, keine Strategie zu haben. Häufig wird beim MCM zu schnell vorangegangen. Dabei hängen Umfang und Ausgestaltung des MCM eng mit dem Kern des Commercial Models zusammen. Erfolgreiche Unternehmen geben dem Thema Raum auf Top Management Eben und betrachten dieses umfassend, um eine tragfähige MC-Strategie abzuleiten. Hier sollten Fragen des aktuellen und künftigen Geschäftsmodells, aber auch zu Zielen und Zielgruppen, Positionierung von Produkten und dem Channel-Mix bis hin zur Struktur und dem Controlling/KPI-System beantwortet werden.
Zur fehlenden Strategie passt, dass Unternehmen MC oft als „Retter in der Not“ sehen. Das ist ein Trugschluss. MC braucht Zeit – erfolgreiche Unternehmen investieren seit Jahren systematisch in Markt- und Kundenverständnis und haben ihre Erfahrungen in Piloten gesammelt.
MCM gilt als Ansatz, um Kosten zu sparen. Nicht selten versuchen Hersteller, auf den MCM-Zug aufzuspringen mit dem primären Ziel der Kostensenkung. Weil die hohen Setup-Kosten dabei unterschätzt werden und kein ausreichendes Budget eingestellt wird, ist das Scheitern der halbherzigen Initiativen häufig vorprogrammiert.
Oft heißt es: „MC kann ja das Marketing mitmachen“. MCM braucht aber spezielles Wissen: Sowohl in Bezug auf Konzeption und Inhalt als auch bei den Fertigkeiten, und das eben nicht nur im Marketing. Neue Inhalte müssen entwickelt und Kanalpräferenzen erkannt werden. Es gilt zentrale Rechtsfragen zu klären und auch in der Kundenansprache werden zuweilen neue Fertigkeiten benötigt. Wer gut im persönlichen Gespräch ist, ist noch lange nicht selbstsicher bei Video-Calls: Aus Hunderten guter Außendienstmitarbeiter werden oft nur sehr wenige virtuelle Sales Reps rekrutiert.
Erfolgreiches Vertriebsmarketing hängt vom richtigen Mix ab, denn verschiedene Kanäle entfalten erst in der Kombination ihre volle Wirksamkeit. Voraussetzung dafür ist, dass sie entsprechend vernetzt, das heißt, Inhalte und das Timing von Botschaften müssen aufeinander abgestimmt werden.
Gerade in Fällen, in denen wenig Zeit zur Definition einer Strategie bleibt, wird oft auch die Organisation des Themas ad hoc entschieden. MCM wird dann einfach „irgendwo“ in einer bestehenden Abteilung aufgehängt, wo gerade Kapazität zu sein scheint. Da das MCM aber gerade von der Verzahnung und Vernetzung der Menschen lebt, vergibt man sich damit einen wesentlichen Treiber für Erfolg. Die ideale Struktur umfasst daher eine zentrale Abteilung für MCM mit engen Schnittstellen und regelmäßigen Austauschplattformen der jeweiligen Business Units.
Wenn zu wenig Zeit und Geld für das Aufsetzen von MCM vorhanden ist, wird oft versucht, bereits vorhandene Inhalte auf neuem Weg zu transportieren. Oft wird dabei bereits der Einsatz von iPads für den Außendienst als MCM gefeiert. Doch die Präsentation von klassischen Materialien auf dem iPad ist kein MC. Es gelingt erst, wenn neue Inhalte kreiert werden, die tatsächlichen Mehrwert schaffen und der Außendienst aktiv über iPad in das vernetzte MCM eingebunden ist.
Aktionismus ist ein häufiger Treiber von MCM. Eine Vielzahl von Initiativen wird aufgesetzt, weil „es die anderen auch so machen“. In solcher Eile sind meist nur Me-Too-Lösungen möglich, ohne klare Ziele und sinnvoll Einbindung in den Kanalmix, die dann auch keinen Mehrwert bieten können.
Das Geschäftsmodel von Big Pharma ist im Vergleich zu anderen Branchen sicher eines der professionellsten. Tatsächlich gab es im Vertrieb und Marketing, insbesondere in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren, gravierende Einschnitte, aber keine grundlegenden Disruptionen. Mit MCM ändert sich das. Man verlässt auf breiter Basis die sicheren Gefilde. Hier ist Vertrauen in die eigenen unternehmerischen Entscheidungen nötig. Dabei hilft es, wenn Unternehmen bereits eine Fehler- und Lernkultur etabliert haben, damit erste Misserfolge und Anlaufschwierigkeiten nicht zu schnell zur Entmutigung führen.
Der Außendienst ist immer noch der beliebteste Kanal im Pharmavertrieb, und viele der ‚neuen‘ oder nunmehr verstärkt genutzten Kanäle werden im Vergleich als „störend“ wahrgenommen. Der Markt lässt sich (noch) nicht komplett über neue Kanäle abdecken. Ein deutliches Indiz dafür sind beispielsweise die sogenannten E-Permissions. 30 Prozent Abdeckung bedeutet je nach Zielgruppe bereits einen Top-Wert. Dieser Anteil setzt gleichzeitig den Filter für vollumfängliches MCM.
Fast jeder Marketing- und Vertriebs-verantwortliche wird sich beim ein oder anderen dieser zehn Punkte an ein Beispiel im eigenen Haus erinnern. Sei es, weil es möglich war, einen Fallstrick vorherzusehen oder aber, weil man selbst in die Situation kam, etwas dazu zu lernen. Alle zehn Punkte sind sicher leichter aufgezählt als gelöst – die Gemeinsamkeit ist, dass es jeweils keine Patentlösung gibt. Im MCM gibt es keine Quick Wins, sondern es gelten bewährte Managementprinzipen: Saubere Analysen, eine klare Strategie sowie Geduld und Persistenz in der Umsetzung zahlen sich aus. Auf dem Weg braucht es eine gewisse Frustrationstoleranz und vielleicht auch den Mut zum Abbruch bestimmter Experimente.